März 19, 2024

Nur das geschonte Leben offenbart sich

Hans Jonas hat bereits im Jahr 1979 in seinem epochalen Werk zur Verantwortungsethik gemahnt: 

„(…) dass gerade die vom Menschen nicht veränderte und nicht genutzte, die „wilde“ Natur die „humane“, nämlich zum Menschen sprechende ist, und die ganz ihm dienstbar gemachte die schlechthin „inhumane“. Nur das geschonte Leben offenbart sich.“

Zitat aus Jonas,  H. (1979, Seite 373): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. 426 S. Insel Verlag, Frankfurt/M.

Geschontes Leben?

Das Foto über dem Menü zeigt ein naturbelassenes Buchenaltholz am Brotjacklriegel im Vorderen Bayerischen Wald, das Foto unter dem Menü ist ein Blick über einen weitgehend vom Menschen ungenutzten Bergfichtenwald auf den Plöckensteiner See im Böhmerwald (beide Fotos: Wolfgang Epple).

In unserer weltweit und durch und durch vom Menschen beeinflussten, zunehmend zersiedelten, betonierten, asphaltierten, mit Artefakten und unseren Hinterlassenschaften überfüllten Welt sind die letzten Reste ursprünglicher Wildnisse besondere Rückzugsorte für die Pflanzenwelt, Wildtiere und für den Menschen: Geschontes, noch verschontes Leben.

Ich nehme hier ein Gedicht des Lyrikers und Psychotherapeuten Bernhard Winter an den Anfang meiner Homepage, weil es in besonderer anrührender und sprachlich einzigartiger Weise das umfasst, was mein Anliegen der Ganzheitlichkeit im Umgang mit der uns anvertrauten Mitwelt ausmacht, und was Ihnen als Besucher der Homepage begegnen wird. Über die vielfältigen und preisgekrönten Aktivitäten Bernhard Winters erfahren Sie mehr hier.

Das Gedicht:

Das „Schutzgedicht“ Bernhard Winters leitet mich direkt zu meinem Anliegen:

Auch in den von Menschen geformten Kulturlandschaften gibt es viele Möglichkeiten, das Leben zu schonen, zu schützen, zu pflegen. Für das Wehrlose und Stumme, für das, woraus wir hervorgegangen sind und dessen Teil wir noch immer sind, – für das, was umfassend bedroht ist durch das Handeln der Menschheit, – dafür soll die Fürsprache nicht verstummen…

In den folgenden Seiten werden Ihnen Beispiele gezeigt – Positives wie Negatives. Der Frage des Hasses gegen wilde Kreaturen genauso wie der Frage der uns wie ein die Menschheit verbindendes, gemeinsames Erbe begleitenden Ästhetik, der Frage des Gewissens und der Ethik bei Beschädigung des Ganzen oder auch nur der Teile soll nachgegangen werden. Die verheerenden Folgen von Energiehunger und Intensivnutzung, Plünderung der Naturvorräte, Bevölkerungsdruck und weiterer Landnahme auf Kosten der Natur werden Thema sein.

Zunächst halte ich fest, den Zitaten folgend:

Geschontes Leben dankt uns individuell

Ein Aspekt des besonderen Wertes echter Natur-Reservate ohne Nutzung: In Gegenden, in denen nicht gejagt wird, ist auch heute noch eine auf Seiten des Wildtieres angstfreie und auf Seiten des Menschen beglückende und aufregende Begegnung Mensch/Wildtier möglich, und das oft aus „nächster Nähe“. Dies gilt nicht nur für die großen und bekannten Nationalparks in Afrika, Amerika oder Asien:

Der Tiger galt in der früheren Literatur als nachtaktiv und scheu. Durch Schonung in den letzten Reservaten seines Vorkommens in Indien ist in Schutzgebieten heute ein Begegnung am helllichten Tag möglich. Die Aufnahme entstand 1985 im Corbett-Nationalpark, Indien. Foto: Wolfgang Epple
Der asiatische Elefant ist wie sein afrikanischer Verwandter Gegenstand von Konflikten und Schutzbemühungen gleichermaßen. Das Eindringen in die angestammten Lebensräume und deren Umgestaltung („Landnutzungswandel“) durch den Menschen und das Töten von Elefanten, um an Elfenbein zu gelangen sind Hauptursachen für die Gefährdung heutiger Elefantenbestände. Das Foto entstand 1985 im Corbett-Nationalpark, Indien. Foto: Wolfgang Epple
Abruzzengämse im italienischen Nationalpark der Abruzzen. Dort werden Gämsen nicht bejagt, weshalb sie bei Annäherung des Menschen nicht fliehen. Das Foto entstand aus wenigen Metern Entfernung. Foto: Wolfgang Epple

Luchs, Wolf und Bär: Die großen Drei unter den einheimischen Beutegreifern wecken weiterhin Ängste, Ablehnung und teilweise Hass. Auf der anderen Seite aber gibt es auch Bewunderung und Fürsprache für ihren zurecht bestehenden gesetzlichen Schutz über das europäische und innerstaatliche Naturschutzrecht. Ihre Rückkehr in angestammte Lebensräume ist Musterbeispiel und Nagelprobe für ein weiter entwickeltes Naturverständnis, Nagelprobe für die Schonung des Lebens.
Fotos: Wolfgang Epple

Unter dem Thema Schutz von Arten im Interessenkonflikt finden sich weitere Nagelproben für Leben, das sich nur unter Schonung offenbaren kann.

Exodus der unberührten Natur… wir sind vermutlich die letzte Generation…

…die noch vom Menschen nicht veränderte Wildnisse auf dieser Erde vorfinden kann.

Auch Skylines der Metropolen, Wahrzeichen der urbanisierten Endstadien von Menschen geprägter Kulturlandschaft (siehe Foto auf dieser Seite der Homepage) , sind ästhetisch reizvoll. Könnte die Menschheit aber ohne naturnahe Ausgleichsräume für die rasch wachsenden Städte und ohne die Wildnis leben, überleben? Welche intuitive Hintergrundinformation, welche Reize empfangen wir aus verschieden stark vom Menschen veränderten Landschaften? Was ist uns der überwältigende Blick in große Natur „wert“?

Letzte echte Urwälder und Wildnisse sind in Europa auf winzige Reste reduziert. Das Bild zeigt einen Blick in die teilweise als Urwaldrelikte geschützten ausgedehnten Waldrücken im Kocevsko/Slowenien in der Nähe von Borovec im Frühjahr 2023. Man kann nur hoffen, dass diese einzigartigen Wald-Landschaften am Rande Mitteleuropas von jeder weiteren Verschlechterung verschont bleiben. Foto: Wolfgang Epple

Was bedeutet uns die Begegnung mit der Erscheinung eines majestätischen Vogels in einzigartiger Landschaft?

Ein Gänsegeier kreist über der Adria an der Küste der Insel Cres/Kroatien: Foto: Anna Lena Leimbach-Epple

In den folgenden Seiten wollen wir bei der Ergründung der Mensch-Natur-Konflikte unter anderem ein besonderes Augenmerk auf die Schlüsselbegriffe des Naturschutzes richten: Schönheit, Eigenart, Vielfalt.

Ganzheitlichkeit des Naturschutzes

… wird hier ausdrücklich nicht als dogmatisch geschlossenes Konstrukt oder gar philosophisch bereits abgeschlossenes Denksystem verstanden. Vielmehr wird der Begriff als ein in freier Betrachtung entstehender Vorschlag für eine möglichst tiefe und weite Sicht des Auftrages der Menschheit interpretiert: Es ist der Auftrag, Verantwortung zu übernehmen und die Schöpfung zu bewahren (Schöpfung als Metapher für die natürliche Stammesgeschichte; Epple 2006, 2009). Ausdrücklich vertrete ich dabei die Auffassung, dass der Mensch als eine Spezies unter Millionen innerhalb des natürlich Gewordenen eine Sonderstellung hat und diese Sonderstellung gerade unter Anwendung des Evolutions-Paradigmas begründet werden kann. Diese Sonderstellung entsteht aus Vernunftbegabung und im Wortsinne einzigartiger Kreativität unter Anwendung aller geistigen inklusive der spirituellen Begabungen.

Zitat aus Epple (2009): „(…) Noch weniger steht die Sonderstellung des Menschen in Frage: Der Mensch ist vermutlich nicht Ziel und nicht Zentrum des Universums. Die Entfaltung der höchsten geistigen Integrations- und Subjektivitätsstufe begründet jedoch seine wertetheoretische Sonderstellung (…). Mit der aus dieser Sonderstellung gespeisten Macht „über Alles“ ist auch Verantwortung „für Alles“ entstanden. Dies erreicht unser Bewusstsein als bestürzende Erkenntnis, dieses „Alles“ in Folge des eigenen Handelns verlieren zu können. Wollten wir uns aufgrund unserer Sonderstellung „Krone“ der „Schöpfung“  nennen, trifft uns die aus der höchsten Freiheit, höchsten Rechten zugewiesene höchste Pflicht: Wir sind in der gesamten von uns überschaubaren Natur das einzige Verantwortung erkennende und Verantwortung bewusst  lebende Geschöpf. Hierauf begründet sich unsere weitere, die moralische Sonderstellung: Unsere Spezies ist das Macht- und Verantwortungszentrum des heutigen Evolutionsgeschehens (vgl. Epple 2006a).“

Ethische Konsequenzen

Ganzheitliche Auffassung des menschlichen Auftrages hat ethische Konsequenzen. Unter Einbeziehung verschiedener Ansätze (ich verweise z.B. auf  Martin Gorke, Konrad Ott, und für die Naturethik plausibel erscheinende Teile des integralen Ansatzes von Ken Wilber) werden in den folgenden Seiten die Defizite im Naturschutz-Diskurs beleuchtet, die immer wieder auf ethische und moralische Fragen der Nachhaltigkeit und des Verhältnisses Mensch/Natur zurückführen. Ganzheitliche Sicht auf den Umgang des Menschen mit der Natur schließt dabei an fundierte Kritik des moralischen Anthropozentrismus an, die durch Hans Jonas in seinem 1979 erschienenen und oben zitierten Hauptwerk „Das Prinzip Verantwortung“ eingeleitet wurde (eine Würdigung unter naturschutzethischen Gesichtspunkten zum 30-jährigen Bestehen dieses Werkes unter Einbeziehung der erwähnten Ansätze hier).