April 25, 2024

Ganzheitlicher Naturschutz und Klimawandel

Ein Denkanstoß zu Biodiversität und Klimawandel am Beispiel der Dynamik der Alpengletscher

Das Beitragsbild zeigt ein Hochgebirgstal im Nationalpark Ordesa y Monte Perdido, spanische Pyrenäen. Foto: Wolfgang Epple. Die Täler der Pyrenäen sind wie die der Alpen durch Vorrücken und Rückzug der Gletscher geprägt.

Bereits zu Ende der Seite über den Naturschutz-Schlüsselbegriff Vielfalt habe ich Aspekte zum Klimawandel aufgegriffen und vor pauschalen Vereinfachungen eines komplexen Themas gewarnt.

Auch habe ich mehrfach in der Homepage auf die unbestrittenen „BiG Killers“ der Biodiversität hingewiesen, unter denen der Klimawandel nach wie vor und noch lange nicht an vorderer Stelle rangiert.

Ein Zitat aus „Focus online“ zum „Tag des Artenschutzes“ vom 19. November 2013 (kmi/dpa) sei an den Anfang gestellt. Denn: So gehen nun seit acht Jahren Schlagzeilen in den Medien, die im Grunde möglicherweise gut gemeint sind, jedoch angesichts der zunehmenden Reduktion der komplexen Thematik des Artenschwundes auf Klimawandel des Nach-Denkens würdig bleiben, weil in der alarmistischen medialen Vereinfachung die Aufmerksamkeit in nicht gerechtfertigter Weise verschoben wird (siehe Epple 2021, Kap.1).

„Jeder Berg ist oben irgendwo zu Ende“

Das Birkhuhn hat schon Probleme. Gämsen und Steinböcke, Alpenglöckchen und Schnee-Enzian ebenfalls. Denn jede Erhöhung der Durchschnittstemperatur um ein Grad Celsius lässt die Vegetationszonen in den Alpen um 200 Meter nach oben wandern. Die Folge: In der floristisch reichhaltigsten Region Mitteleuropas wird der Lebensraum knapp. „Jeder Berg ist oben irgendwo zu Ende“, sagt Christine Margraf. Für kälteliebende Pflanzen wie den Gletscher-Hahnenfuß oder den Moos-Steinbrech gebe es schon keine Ausweichmöglichkeiten nach oben mehr. Der Klimawandel treibt – wie in anderen Gebieten Deutschlands auch – den Artenschwund massiv voran.

Ist das so einfach? Wer treibt zuvorderst den Artenschwund massiv voran? Siehe hier.

Natürlich stimmt es, dass „Berge irgendwo oben zu Ende“ sind. Natürlich stimmt es, dass im Zuge der Verschiebung der Klimazonen die an die obersten Stufen angepassten Arten aus den Alpen (zumindest regional) verschwinden. Für immer…?

Es geht mir hier um die angebliche „Unumkehrbarkeit“ der Phänomene und die implizit im Rahmen des Klima-Hypes geforderte „Konstanz“. Es geht um die Rolle der immer schon bestehenden DYNAMIK des Klimas und also um die Rolle des „Klimawandels“ beim Aussterben oder regionalen Verschwinden von Arten.

Hier soll also keinesfalls der Klimawandel „geleugnet“ werden (der abwegige Vorwurf gegen jede wissenschaftliche Skepsis). Nach Erstellung dieses Beitrags erscheint eine neue Studie in Scienticic Reports (Rödder, D., Schmitt, T., Gros, P. et al. Climate change drives mountain butterflies towards the summits. Sci Rep 11, 14382 (2021)), die die Reaktion der Schmetterlinge auf die Klimaerwärmung an einem Beispiel in den Ostalpen (Salzburger Land) beschreibt und einordnet. Eine begleitende Pressemitteilung des Leibniz-Institutes zur Analyse des Bidoviversitätswandels (Titel: „Nach dem Gipfel ist Schluss: Klimawandel bedroht Gebirgs-Schmetterlinge“) macht die Ergebnisse gut verständlich; dort zur Methodik:

„(…)Das österreichisch-polnisch-deutsche Team hat hierfür historische Aufzeichnungen von 5836 Tagfalterbeobachtungen aus den Datenbanken des „Hauses der Natur Salzburg“ mit hochauflösenden Klimadaten von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik Salzburg korreliert und so die Verbreitungsgebiete der Tiere im Zeitraum 1960 bis 2019 analysiert.(…)“

Aus dem Abstract der Original-Arbeit (übersetzt):

Wir haben langfristige Verbreitungstrends von Bergfaltern in den Ostalpen untersucht und
 basierend auf Feldbeobachtungen und Artenverteilungsmodellen
 die artenspezifischen jährlichen Verbreitungsverschiebungen berechnet(...)
Wir haben auch Details zur Ökologie, zum Verhalten 
und zur Lebensgeschichte sowie zur Klimanische jeder bewerteten Art zusammengestellt.
 Wir fanden, dass die höchsten Höhenmaxima in den meisten Fällen erst kürzlich beobachtet wurden, 
während die niedrigsten Beobachtungshöhen vor 1980 aufgezeichnet wurden.
 Mobile und generalistische Arten mit einer breiten ökologischen Amplitude
 bewegten sich tendenziell stärker bergauf
 als spezialisierte und sesshafte Arten. 
Als Haupttreiber identifizierten wir 
klimatische Bedingungen und topografische Variablen
 wie Sonneneinstrahlung und Sonnenausstrahlung. 
Diese Studie liefert wichtige Beweise 
für die Reaktionen von Hochgebirgstaxa auf den schnellen Klimawandel. 
Unsere Studie unterstreicht den Vorteil,
 historische Erhebungen und 
museale Sammlungsdaten mit modernsten Analysen zu kombinieren.

Weitere Zitate aus der begleitenden Pressemitteilung (s.o.); Prof. Thomas Schmitt vom Senckenberg Deutschen Entomologischen Institut in Müncheberg  „Da es in Mitteleuropa wärmer wird, verlagern zahlreiche Arten ihr Verbreitungsgebiet in höhere Lagen. Das kann vor allem für Gebirgsarten zum Problem werden, denn solche vertikalen Verschiebungen sind endlich. Ihr gesamter Lebensraum wird – bedingt durch die Topographie – kleiner und die Frage bleibt, was passiert, wenn die Arten an den Gipfeln angekommen sind?“  Laut der Studie werden zudem auch Interaktionen zwischen Arten gestört oder können nicht mehr stattfinden. Futterpflanzen von Schmetterlingen reagieren beispielsweise langsamer auf klimatische Veränderungen als ihre Konsumenten.„Vereinfacht könnte man sagen, dass die Pflanzen aufgrund ihrer geringeren Mobilität nicht schnell genug mitwandern können. Ein Beispiel hierfür ist der Natterwurz-Perlmutterfalter (Boloria titania), dessen Verbreitungsgebiet sich immer weniger mit dem seiner bevorzugten Futterpflanze, dem Schlangen-Knöterich (Bistorta officinalis) überlappt.“ 

Das ist in der Tat die Frage:

Was geschah in der Vergangenheit (also in einem Zeitraum viel größer als die hier untersuchten 60 Jahre) mit den Artengemeinschaften des Hochgebirges? Was geschah, wenn Gletscher kamen und gingen? Die Studie bestätigt eindrucksvoll, dass die Lebensgememeinschaften mit dem schnellen derzeitigen Erwärmungstempo nicht mithalten können. Sie bestätigt aber auch die grundsätzliche Anpassungsfähigkeit vieler Arten, besonders der „Generalisten“.

Gletscher, Gebirge, Tal, Mountain Valley, Bergige
Der aktuelle Rückzug der Gletscher ist Zeuge und Zeichen der Klimaerwärmung. Foto: Harald Tedesco, Pixabay. Die Dynamik der Vorgänge weist entscheidend darauf hin, dass „Konstanz“ klimatischer Bedingungen, wie sie die derzeitige Klima-Diskussion voraussetzt und vehement fordert, mit der erdgeschichtlichen Realität nicht in Einklang zu bringen ist. Ganzheitliche Naturschutzbemühungen um die vom Wandel betroffenen Lebensgemeinschaften müssen Dynamik und die Pfade der Evolution in die Zukunft offen halten (Epple 2017, 2021),

Lässt sich die steile These von endgültigem Verschwinden (und damit letztlich Unumkehrbarkeit) ganzer Lebensgemeinschaften und die Forderung nach „Konstanz“ der Verhältnisse mit anderen Hinweisen zum Klimawandel aus der Gletscher- und Klimaforschung in Deckung bringen? Warum finden wir überhaupt Gebirgs-Lebensgemeinschaften, die „eingespielt“ wirken, wenn doch z.B. die Alpen eine ganz erhebliche Dynamik lange vor dem „anthropogenen“, also menschengemachten Klimawandel hatten?

Hier sei eine erhellende und durchaus überraschende Publikation aus dem Jahr 2018 vorgestellt:

Seguinot, J. et al. (2018) Modelling last glacial cycle ice dynamics in the Alps. The Cryosphere, 12, 3265–3285, 2018https://doi.org/10.5194/tc-12-3265-2018

Spektakuläres Kernstück ist eine Modellierung der Vorstöße und Rückzüge der Alpengletscher in der letzten Kaltzeit, also über ca. 120.000 Jahre. Die ETH Zürich hat in sehr verständlicher Weise Anlass und Anliegen der Studie dargelegt. Hier die Einbettung des Videos:

Die ETH schreibt zum Entstehen der Simulation: „(…)Für die Simulationen der Gletscherentwicklung und der Ausbreitung des Eises nutzten sie ein spezielles Modell (Parallel Ice Sheet Model (PISM)), das sie mit Daten der anfänglichen Topographie von Gebirgen und Gletschern fütterten, der physikalischen Eigenschaften von Gestein und Gletscher, teilweise basierend auf Beobachtungen aus der Antarktis und Grönland, und Daten des Wärmefluss’ im Erdinneren sowie der klimatischen Bedingungen. Die Grundlagen für letzteres lieferten unter anderem aktuelle Wetterdaten kombiniert mit Paläo-​Klimadaten aus Sediment-​ und Eisbohrkernen der vergangenen 120’000 Jahre.(…)“

Dass eine Simulation nicht der vollständigen Realität entspricht, und dass das Wissen begrenzt bleibt trotz Modellrechnungen durch einen Super-Computer, darauf weist der Autor Julien Seguinot am Ende des Videos – ganz entsprechend sorgfältiger Wissenschaft – hin.

Dynamik des Kaltzeit-Klimas

Für den Ganzheitlichen Naturschutz innerhalb der Klimawandel-Diskussion, der den Artenschutz ebenso ganzheitlich auffasst, ergeben sich spannende Fragen und einige Konsequenzen.

Zunächst bleibt festzuhalten, wie überraschend groß die Dynamik der Eisbedeckung der Alpen (Vorstöße, Rückzüge der Gletscher) selbst innerhalb einer Kaltzeit ist.

Denn: Es gab…

…“ Mehr Vorstösse als angenommen“ (…)…

Die Simulation zeigt nun, dass sich einige Alpengletscher in den vergangenen 120’000 Jahren bis zu mehr als zehn Mal ausbreiteten und wieder zurückzogen.“(…)“Kalt-​ und Warmzeiten wechseln sich in einem Eiszeitalter ab. Grundsätzlich befindet sich die Erde momentan in einem Eiszeitalter.(… )

Die heute vorgefundene Fauna und Flora der verschiedenen Höhenstufen der Alpen – auch die oben herausgegriffene Schmetterling-Fauna – mussten diese Dynamik – vom Vorstoßen bis hin zum fast vollständigen Abschmelzen der Gletscher mitmachen, mitgehen. Sonst wären Tiere und Pflanzen der Alpen nicht da, wo wir sie heute kartieren und schützen können.

Es ist also zumindest unsicher, wie und warum trotz der offensichtlich hohen Variabilität der Verhältnisse im Hochgebirge immer wieder (scheinbar?) stabile Lebensgemeinschaften entstanden. Vielleicht ist Dynamik selbst ein Anpassungsvorteil? Das führt zu den einigermaßen gesicherten …

Konsequenzen für den Naturschutz?

  • Die Biozönosen, das sind die Lebensgemeinschaften, sind zumindest während der (noch immer anhaltenden) eiszeitlichen Bedingungen auf der Erde möglicherweise auf Dynamik „selektiert“, sonst hätten sie nicht überlebt. Das gilt ausgeprägt für die gemäßigten und polaren Breiten, in denen die Klimaschwankungen vermutlich stärker sind als in den inneren Tropen, die über längere Zeiten und eher konstanter „warm“ bleiben.
  • Das Festhalten an einem „steady state“, also einer irgendwie vorauszusetzenden „Konstanz“ (nicht nur) der Bedingungen in den Alpen (und vermutlich auch anderer Gebirge der Erde) und des begleitenden Klimas ist vor dem Hintergrund der erdgeschichtlichen Dimension der Änderungen wirklichkeitsfremd.
  • Schutzbemühungen müssen auf die Dynamik-Konzepte, die der Natur schon evolutions-stabil innewohnen, setzen. Die Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit der Natur ist so etwas wie ein Angebot, das zur Rettung genutzt werden will!
  • Für die Alpen: Alle möglichen (nicht nur) glazialen Rückzugsorte, die verbleiben, verdienen strengsten Schutz.
  • Grundsätzlich: Lebensräume müssen vernetzt und verbunden bleiben, damit Arten in horizontaler und vertikaler Richtung veränderten Klimabedingungen angepasst „wandern“ und ihre Verbreitung anpassen können. Das Konzept des Biotopverbundes, und das in den Naturschutzrichtlinien der Europäischen Union geforderte kohärente Netz intakter und geschützter Lebensräume als Beispiel eines kontinent-überspannenden Schutzsystems wird durch die Erkenntnis der enormen Dynamik des Klimageschehens während der letzten Kaltzeit eindrucksvoll gestützt.
Spanische Steinböcke in der Sierra de Gredos, Spanien; aufgenommen im Sommer 1984. Fotos: Wolfgang Epple. Hochgebirgsarten sind der natürlichen Dynamik ihres Lebensraumes einschließlich Klima-Änderungen von jeher stark ausgesetzt und entsprechend angepasst. Der Schutz (der Veränderlichkeit) ihrer Lebensräume ist vordringlich, gerade auch im Zuge der derzeitigen Klima-Erwärmung. Die Vorstellung, Klima- und Lebens-Bedingungen könnten durch technische Maßnahmen des „Klimaschutzes“ in eine vom Menschen (vor)gegebene Konstanz gezwungen werden, ist vollkommen realitätsfremd.

Ob also wirklich und für alle Zeit gilt: „Nach dem Gipfel ist Schluss“, mag dahingestellt bleiben. Sicher ist: Gegensteuern gegen die rasche Klimaveränderung ist sinnvoll. Die Wahl der Mittel allerdings will gut überlegt sein, denn wie der Ausbau sogenannter Erneuerbare Energien zeigt:

Im Rahmen des Klima-Hypes und „Klimaschutzes“ (siehe Epple 2021) wird störend, zerstörend und Barrieren-bildend durch sogenannte Erneuerbare Energien in das verletzliche Netz der Natur und ihrer Lebensräume immer rücksichtsloser eingegriffen (siehe Windkraft; und speziell für Fließgewässer (gerade der Gebirge!) die Wasserkraft). Dass dies auch noch als „Förderung der Landespflege“(!) (so in einer Volksbefragung am 16. Mai 2021 zum geforderten Eindringen der Windkraftindustrie in den Ebersberger Forst bei München) , „effektiver Naturschutz“ (die Parolen der Windkraftindustrie, Beispiele siehe Epple 2021) und insgesamt als Weltrettung verbrämt wird, ist absurd.

Rettung der Natur durch ihre weitere Industrialisierung ist einer der Anachronismen und Widersprüche der Politik in Zeiten des Klima-Alarms und Klima-Hypes.

Die Reduktion der komplexen Zusammenhänge der Ökologischen Krise auf „Klima und CO2“ ist die Versündigung des Zeitgeistes, der bekanntlich „grün“ ist, dem die Natur (das eigentliche, den Menschen einschließende Schutzgut) aber immer ferner und fremder wird. Unter reduktionistischer Argumentation mit medialem Trommelfeuer kommen wesentliche und kaum mehr gut zu machende Entscheidungen gegen die Natur, gegen den Ganzheitlichen Naturschutz zustande. Ich nenne bewusst noch einmal die verheerenden Auswirkungen von Wasserkraft und die zunehmend brachiale Invasion der Windkraft in die letzten halbwegs intakten Natur-Landschaften unter der fragwürdigen Anmaßung, durch weitere Technisierung und Industrialisierung die Natur vor ihrem angeblich weitgehend klimatisch verursachten Ende retten zu können.

Ganzheitlicher Naturschutz nimmt die Dynamik der Natur auf, leugnet dabei keineswegs die Dynamik auch des Klimas dieser Erde. Er leugnet auch nicht, dass vieles dafür spricht, dass eine bereits zahlenmäßig überbordende Menschheit mit ihren Aktivitäten und Ansprüchen zur aktuellen schnellen Erwärmung der Erde beiträgt. Er stellt jedoch gerade nicht die Technisierung und den Glaube an die Weltrettung durch Industrie und Technik in den Vordergrund, sondern mahnt zum Erhalt, zur Stützung aller natürlichen Anpassungsfähigkeiten und zum Respekt vor den Möglichkeiten der Natur und ihrer Arten. Zentrales Anliegen bleibt dabei der Schutz, Erhalt und die Weiterentwicklung möglichst großer zusammenhängender Lebensräume, in denen die Anpassung an die Dynamik und die Dynamik der Anpassung selbst im Sinne der Zukunft der Evolution weiterhin stattfinden kann.

In (kluger..!) Anpassung, nicht in verengtem Festhalten an ohnehin nicht bestehender und nicht möglicher „Konstanz“ liegt die Zukunft des Artenschutzes und damit letztlich der Menschheit auch vor dem Hintergrund des Klimawandels. Ganzheitlichkeit erfordert diese Einsicht. Würde nach dieser Einsicht gehandelt, müssten Maßnahmen des „Klimaschutzes“ grundsätzlich unter den Vorbehalt des Vorrang des Erhalts der Vielfalt des Lebens auf der Erde gestellt werden. Denn der Verlust der biologischen Vielfalt ist die stärkste Wirk-Größe und damit umfassendste Bedrohung innerhalb der sozial-ökologischen Krise.