Eine Skizze mit Blick auf Schönheit als Schlüsselbegriff des Naturschutzes
von Rudolf Ahrens-Botzong*
Vorbemerkung des Herausgebers (Wolfgang Epple)
Herrn Ahrens-Botzong bin ich dankbar für die in seiner Skizze formulierten Gedanken zum Naturverlust aus psychosozialer Sicht. Die weiter fortschreitende Entwertung und Zerstörung letzter naturnaher Großlandschaften verdient die tiefergehende Betrachtung der psychischen Auswirkungen des drohenden umfassenden Verlustes. Die im Beitrag gereichten Fotos sind schmerzhafte Verdeutlichung, welche noch immer großartigen Landschaften in der Mitte Europas derzeit auf dem Spiel stehen. Sollte der Angriff insbesondere der Windkraftindustrie – wie von der Politik angekündigt – alsbald flächendeckend gelingen, und sollte weiterhin ohne Rücksicht auf Harmonie und Schönheit auch für Verkehrswege und Siedlung eingegriffen werden, dürften diese Bilder alsbald nur Erinnerung sein.
* Rudolf Ahrens-Botzong, Jahrgang 1944, aus Ludwigswinkel (Kreis Pirmasens), ist langjährig erfahrener Naturschützer. Er war 30 Jahre BUND-Mitglied und ist dort angesichts dessen Kurs 2016 ausgetreten und in die Naturschutzinitiative e.V. eingetreten, wo er Fachbeirat für Landschaftsschutz ist. Er ist Gründungsmitgleid der Initiative Pro Pfälzerwald und Vorsitzender der Interessengemeinschaft Landschaft Südwest (IGLSW) .
1. Worum geht es jetzt ?
„Landschaft“ ist ein traditionsreicher Begriff. Im Naturschutz konzentriert man sich heute allerdings auf Artenschutz, Biotopschutz und Biodiversitätsschutz; hat also eine biozentrische Sichtweise. Die folgende Betrachtung nimmt bewusst eine anthropozentrische Sichtweise ein: Wir Menschen haben ein psychisch verankertes Naturbedürfnis; Natur ist für uns mehr als eine physische Lebensgrundlage.
Der Flächenanteil den Siedlungen, Industrie und Gewerbe, Verkehrswege sowie andere Infrastruktur in Deutschland einnehmen, beträgt derzeit rund 17 % . Er wächst jeden Tag um etwa 50 ha. (1)
Die Landwirtschaft erfordert rund 51 % der Fläche. Wir haben somit – zwar stetig abnehmend – noch weite, naturnah erhaltene, nicht überbaute Landschaften !
Zum statistischen Aspekt kommt hier im Wortsinn der weite Blick über diese Landschaften.
Die Wahrnehmung vielfältiger Natur um mich herum – der Wegrand voll Wildblumen, eine knorrige Weide in der Wiese- diese Wahrnehmung setzt sich in die Ferne fragend fort: Welche Vielfalt umgäbe mich, stünde ich auf dem Bergrücken dort drüben, würde ich über die nahe Hochfläche wandern ?
So erschließen wir uns Landschaften.
Der Soziologe L. Burckhardt schreibt: „Nicht in der Natur der Dinge, sondern in unserem Kopf ist die ‚Landschaft‘ zu suchen.“ (2) Und der Landschaftstheoretiker O. Kühne: “ Der Betrachter eignet sich die physische Landschaft an.“ (3). Der Philosoph E. Cassirer (zitiert aus Krois): „Das [Wahrnehmungserlebnis] ist als ‚sinnliches‘ Erlebnis immer schon Träger eines Sinnes.“ (4) Dieser Sinn kann tief in uns verankert sein, durch Prägungen, Erinnerungen und Gefühle: Hier oder an einem ähnlichen Ort war ich schon, mit meinen Eltern, dem Freund, der Freundin; wir sprachen damals über unsere Zukunft.
Kurz: Wir deuten Landschaften! Eine Landschaft und deren Elemente können für uns persönliche, symbolische Bedeutungen haben. Der Psychologe Harold Lincke verallgemeinert: (5) „Die Dinge reflektieren die Bedeutungen, die wir in sie hineinlegen … „ Sein Konzept des Bedeutungsträgers:
„… eine Kategorie von Objekten, die ihre Bedeutung zwar erst im Laufe des Lebens über Umwelteinflüsse erlangen (also nicht von vornherein genetisch festgelegt sind), sich dann aber, sobald sie emotionale Bedeutung gewonnen haben, wie angeborene Objekte verhalten … „
Der Natursoziologe Rainer Brämer erweitert diese Sichtweise: (6)
“ Jahrmillionen lang war es für unsere Vorfahren vor allem diese Wirklichkeit, mit der sie sich in ihrem Überlebenskampf auseinandersetzen, ihre Sinne, Fähigkeiten und Werkzeuge weiterentwickeln mussten. Auch nachdem geschützte Siedlungen ein begrenztes Gefühl von Geborgenheit geliefert hatten, blieb deren natürliche Umwelt der mit Abstand wichtigste Lebensraum des Menschen …
In unserer Freizeit wird aus der Restnatur also eine Art Psychotop als ausgleichendes Gegenstück zum Technotop. Unser angestammtes Biotop hat sich so gesehen in unser Innerstes zurückgezogen und reanimiert dort unsere eigene, evolutionär gewachsene Natur. Von ihr können wir uns offenbar nicht ohne weiteres lösen, wie es unsere technologische Selbstermächtigung suggeriert. Wir brauchen sie,
um regelmäßig unsere natürlichen Batterien aufzuladen und der ökonomisch gesteuerten Willkür des Technotops standzuhalten. „
Ein Aperçu möchte ich beigeben: Beim Wandern durch die Natur begegnen uns Sträucher, Bäume, Felsen, Quellen, Vieles das sich vom Umfeld abhebt. Manchem kommt dabei vielleicht ein Gedanke: Das sind Individuen, man kann ihnen so wieder begegnen, ihre Gestalt liegt auch nicht im ‚Auge des Betrachters‘. Das Gestaltkonzept hat in der Psychologie Bedeutung erlangt (7, 8) . In Fortführung dieses Gedankens könnte man vermuten, zwischen Betrachter und Baum entwickle sich ein animistisches Verhältnis (9) . Das bekannte Lied „Mein Freund der Baum“ (10) der Sängerin Alexandra weist in diese Richtung.
2. Verlusterfahrung
Weite, naturnah erhaltene, nicht überbaute Gebiete nehmen in Deutschland immer schneller ab; je Tag werden etwa 50 ha überbaut, bis 2030 soll der „Verbrauch“ auf – immerhin noch – 30 ha / Tag abnehmen (11).
Die damit verbundenen Verluste an Natur und an Natürlichkeit der Landschaftsbilder beschränken sich keineswegs auf die Baufelder selbst. Wildtierhabitate werden eingeengt, Hochbauten, besonders Wind-kraftanlagen, beherrschen das Landschaftsbild über Entfernungen 10 und mehr Kilometer. Für viele Menschen, zumal naturverbundene, bedeutet das schmerzliche Verlusterfahrung.
Weshalb schmerzlich? Der Kultursoziologe A. Reckwitz erklärt das so: (12)
„. . . doch würde ich die These vertreten, dass es sich bei allen Verlusterfahrungen im Kern um einen Identitätsverlust handelt, seien nun individuelle oder kollektive Identitäten berührt. Das Verschwinden von etwas wird immer dann und nur dann als Verlust erlebt, wenn es für das individuelle oder kollektive Selbst schmerzhaft ist. Und als schmerzhaft wird Verlust erfahren, wenn er das Selbst beziehungsweise das positive Selbstbild beschädigt . . . „
Zusammen mit dem vorherigen Abschnitt ergibt sich sich: Unsere symbolhafte Beziehung zu naturnahen Landschaften wird ein Teil unseres Selbst – erlebbar in der Vorstellung der Bedeutungsträger dort oder
durch Begegnung mit ihnen. Realer Verlust von Bedeutungsträgern verletzt daher unser Selbst !
Einen beachtenswerter Befund gibt G. Herzog (13):
„Persönlicher, unerwarteter Verlust geht einher mit dem Anstieg des negativen Affekts, während kollektiver Verlust eher einhergeht mit einem Verlust von positiven Affekten, einer gemeindeweiten Abnahme positiver Gefühle über die Umwelt, Verlust von Enthusiasmus, Energie und Lebenslust.“
Folgende Annahme ist somit plausibel:
Verluste an Natur und an Natürlichkeit der Landschaftsbilder wirken sich über die individuellen und kollektiven Verlusterfahrungen sozialschädigend aus.
4. Naturästhetik
Zur Klassifizierung von Bild 5 als „naturnahes Landschaftsbild durch Schnellstraßenbau zerstört„, könnte man nun einwenden: „Die Schnellstraße bringt doch Nutzen.“ Häufig hört man Sätze wie „Schönheit liegt im Auge des Betrachters.“ (Siehe auch (14)) . Jedoch: Nützlichkeit und Schönheit sind inkommensurable Begriffe! Die ästhetische Wertschätzung naturnaher Landschaften ist eine überpersönliche, soziologisch belegte Tatsache, siehe die Quellen (2) sowie (15),(16).
Häufig hört man auch Einwände wie: „Von der Ortslage, vom beliebten Wanderweg aus sieht man die Windräder doch nicht !“ Das sind jedoch Fehlzuordnungen, weil Naturverbundenheit und Natursuche nicht am Rand des Blickfelds enden; mental hat man die Landschaft darüber hinaus im Bewusstsein (siehe oben). Bereits das Wissen, vom Weg oberhalb sähe man den Windpark, nimmt der Gegend die Anmutung einer naturnaher Landschaft !
Aus diesen und weiteren Quellen, u. a. im Abschnitt 1 oben sowie eigener Beobachtung, schließe ich :
Der Eindruck, den eine Landschaft auf uns macht, bildet sich durch das Zusammenwirken von sinnlicher Wahrnehmung, Vorprägung, Erinnerung und Ausdeutung.
Wir empfinden ein Landschaftsbild als harmonisch, wenn seine Elemente vielfältig sind, in Gruppen einander zugeordnet und durch gemeinsame Merkmale verbunden.
Ein harmonisches Landschaftsbild wahrt menschliche Größenverhältnisse,
ist daher dem Menschen angemessen.
Es geht um Nähe und Ferne, Einzelnes und Zusammengehörendes im Raum.
Es geht um geborgen sein und zugleich frei im Raum.
Die Bezeichnungen „harmonisch“, „schön“ , „ästhetisch“ meinen in diesem Sinn dasselbe.
Weitere Analysen führten mich zu folgendem mengentheoretischem Schema
Kennzeichen der Natur :
Die Menge des Beobachtbaren ist jeweils nahezu unbegrenzt
hinsichtlich der Anzahl und Vielfalt an Elementen,
deren Formen und Größen.
Kennzeichen der Architektur und Technik :
Die Menge des Beobachtbaren ist jeweils begrenzt
hinsichtlich der Anzahl und Vielfalt an Elementen,
deren Formen und Größen.
Natürlich entstandene Systeme einerseits,
architektonisch und techchnisch konstruierte Systeme andererseits
zeigen unter sich jeweils Selbstähnlichkeit der Formen, jedoch nicht wechselseitig.
W. Epple fasst die Situation im Hinblick auf Schönheit so zusammen (17)
Das schließt die oben skizzierte symbolhafte Beziehung zwischen uns und der Natur, zu ihren noch weiten, naturnah erhaltenen, nicht überbauten Landschaften ein. Wer sie missachtet, bewirkt damit wahrscheinlich gesellschaftsschädigende Verhaltensweisen der Bürgerinnen und Bürger, schadet unserem Gemeinwesen.
Literatur:
(1) https://www.umweltbundesamt.de/bild/flaechennutzung-in-deutschland
(2) Burckhardt, L. ,Warum ist Landschaft schön? , 3. Auflage, Martin Schmitz Verlag,
Berlin, 2011, S. 19
(3) Kühne, O.: Landschaftstheorie und Landschaftspraxis – Eine Einführung aus sozial-
konstruktivistischer Perspektive, 2. Auflage, Springer Fachmedien: Wiesbaden, 2018
(4) Krois, J. M., Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen
Formen. In: Braun, H.-J., Holzhey, H. und Orth, E. W. (Hrsg.): Über Ernst Cassirers Philosophie
der symbolischen Formen, 2. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt, 2016, S. 15 ff
Paetzold H., Ernst Cassirer – zur Einführung, 4. Aufl., Junius Verlag, Hamburg, 1993, S. 35 ff
(5) Lincke, H., Instinktverlust und Symbolbildung, Verlag Severin und Siedler, Berlin 1981, S. 46 f
und S. 186
(6) Brämer, R. (2018) Abschied von der Natur? Facetten einer schleichenden Naturentfremdung
(7) Hehlmann W., Wörterbuch der Psychologie, 12. Aufl., Kröner Verlag, Stuttgart, 1974, S. 179 f
(8) Henckmann W. und Lotter K. (Hrsg.), Lexikon der Ästhetik, Beck Verlag, München, 1992, S. 92
(9) Siehe Hehlmann, (Quelle 6), S. 19
(10) https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Text+%22Mein+Freund+der+Baum
aufgerufen am 16. 1. 2022
(11) Umweltbundesamt 2020 Flächenverbrauch in Deutschland und Strategien zum Flächensparen
(12) Reckwitz, A. (2021): Auf dem Weg zu einer Soziologie des Verlusts
(13) https://books.google.de/books?id=s9clBgAAQBAJ&pg=PA177&lpg=PA177&dq=Kollektiver+Verlust&source=bl&ots=Q3vhXXwDB8&sig=ACfU3U1lrzzUzParmuhyDVFoT0liMvBXow&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwidjuHYxZv1AhUxiP0HHdpuBOg4vgEQ6AF6BAgKEAM#v=onepage&q=Kollektiver%20Verlust&f=false (Seite 177; aufgerufen 16.01.2022)
(14) http://wdb.fh-sm.de/SQProverb20140506Liebenrodt
aufgerufen am 16. 1. 2022
(15) Wöbse H. H., Landschaftsästhetik, Ulmer Verlag, Stuttgart, 2002
(16) Epple, W. (2021). Windkraftindustrie und Naturschutz. Windkraft-Naturschutz-Ethik. Eine Studie für die Naturschutzinitiative e.V. (NI), 544 Seiten. Verlag BoD – Books on Demand, Norderstedt.
(17) Epple, W. Ganzheitlicher Naturschutz. Schlüsselbegriffe des Naturschutzes I: Schönheit